Ein Platz an der Sonne

Der Neo- Kolonialist ist weder mit einer Bibel noch mit einem Schwert bewaffnet. Seine Utensilien sind diskreter. Man erkennt ihn an dem leicht rötlich- verbrannten Teint, der Kamera und einer vollen Geldbörse.  
Als bei Clara und mir die kalte Jahreszeit anbrach, flohen wir in den Süden Indiens. Dort wird es niemals Winter. Dort findet man die “geordnetere“ Seite Indiens. Dort trifft man auf die meisten Touristen. Ihnen möchte ich diesen Blogeintrag widmen, denn sie besitzen eine unheimliche Macht. Unbewusst verändern sie eine ganze Kultur und erschaffen sich eine eigene Parallel-Welt.
Um das Ausmaß der Transformation zu verstehen, möchte ich einmal die Gegebenheiten in dieser TouristenHochburg beschreiben. Der Süden Indiens besteht aus fünf Staaten (Telangana, Andra Pradesh, Tamil Nadu und Kerala). Zwischen 300-400 Millionen Touristen fallen jährlich in diesen Teil Indiens ein. Das ist zunächst einmal für Land und Leute auch gut so. Es gibt wunderschöne Strände, gut gepflegte Wildlife Parks, viele antike Tempelanlagen. Das Essen ist super. Ein Besuch ist nur zu empfehlen. Viele Menschen aus der ganzen Welt wollen diese Region entdecken. Dazu zählten auch wir, Clara und ich. Wir machten jedoch eine Erfahrung, die wir sicherlich so nicht erwartet hätten. Wir erlebten einen Kulturschock! Mit der südindischen Kultur? Nein! Mit etwas ganz anderem. Mit der westlichen Kultur! Mit der uns allzu gut bekannten westlichen Kultur.  
Eben hielten wir uns noch in Chennai auf, der größten Stadt Tamil Nadus. Sicherlich ist Tamil Nadu einer der konservativsten Staaten Indiens. Dort gehen die Menschen noch in Anziehsachen schwimmen, weil man sich eben nicht in der Öffentlichkeit entblößt (also Frauen sollen das nicht machen). Nun befanden wir uns nur vierzig Kilometer weiter südlich an einem Ort, Mahabalipuram, bekannt für seine antiken Tempel. Unsere Kinnladen klappten herunter, die Münder standen uns weit offen, unsere Gedanken rannen. „Wie kann diese Frau das  bloß machen? Weiß sie nicht, wo sie hier ist? Die traut sich ganz schön was“,  sagten wir zu einander. In Sichtweite stand eine Frau. Sie trug einen Rock und küsste auf offener Straße ihren Freund. Eine Szene, die mir aus meiner Heimat ziemlich vertraut war und wahrscheinlich nicht einmal meine Aufmerksamkeit in Deutschland geweckt hätte. Sie löste bei mir ein Gefühlsdurcheinander von Entsetzten, Aufregung und Angstgefühlen aus.
Angst hatte ich um das Pärchen. In Indien können öffentliche Zuneigungsbekundungen unter den Strafparagraphen 294 des IPC (Indian Penal Code) fallen, wonach ein „obszöner Akt in der Öffentlichkeit“ hohe Geldstrafen und/oder 3 Monate Gefängnisaufenthalt bedeuten. Auch sind jedem in Indien Geschichten bekannt, die von Polizisten berichten, die unverheiratete Liebespärchen zusammenschlagen, weil sie sich in Parks heimlich treffen und das tun, was Liebespaare in Deutschland, Italien und Frankreich halt tun.
Schnell suchte ich den Blickkontakt mit anderen Indern, um ihre Reaktion zu beobachten. Nichts! Keine Regung, kein „dirty look“, einfach nichts! Stattdessen lächelten ein Shopverkäufer nett und fragte, ob ich etwas kaufen möchte. Das hat mich sehr verwirrt.
Ich schaute mich etwas genauer um. Das Straßenbild war geprägt von Röcken, kurzen Hosen, German Bakeries, Pizza Shops, Bars, Souvenir Shops und händchenhaltenden Pärchen. All die Dingen, die ich bisher in Indien nicht vermutet hätte. Es fühlte sich an, als hätte ich die konservative Welt Tamil Nadus komplett verlassen. Es fühlte sich so an, als wären wir nicht nur in einem anderen Staat, sondern in einem ganz anderen Land. Die „reine Gesellschaft“, die vielen Indern so wichtig ist (um einige Beispiele zu nennen: Alkoholprohibition in einigen Staaten, Keuschheit vor der Ehe, dezenter Kleidungsstil), wurde hier über den Haufen geworfen.
Diese kulturelle Akzeptanz und Ignoranz wiederholte sich in den meisten Orten unserer Reise. Mal wurde es extremer, mal entspannter mit der „Verwestlichung“. Einige Orte ( Varkala, Kerala) hätten überall in Europa liegen können, Sie wären durch nichts aufgefallen.
Irgendwann stellte sich mir die Frage: Wieso akzeptieren die Inder das? Bemerken die Touristen eigentlich nicht, dass das Indien, das sie hier sehen, eine „light Version“ des “echten Indiens“  ist, soweit man das sagen kann?
Meine Antwort darauf:  Zum einen haben viele ausländische Touristen nicht den Anspruch, in eine fremde Kultur einzutauchen. Ja, sie haben zwar konkrete Wünsche und  Vorstellungen. Sie suchen einen Platz an der Sonne, wo sie in Ruhe ihre Ferien verbringen können. Die Urlaubsumstände dürfen sich jedoch nicht zu sehr von der eigenen, schon bekannten entfremden. Genau das suchen sie. Die meisten Touristen finden das hier auch. Auf der anderen Seite stehen die Inder. Sie richten sich nach den Fremden. Sie wissen, dass die strengen Verhaltensregeln den meisten Europäern oder anderen westlichen und östlichen Kulturen fremd sind. Die Touristen würden nur verschrecken. Deshalb richten die Einheimischen sich nach ihnen. Dadurch entstehen „kulturelle Enklaven des Westens“.
Ich habe meinen Arbeitskollegen (back home in Baghmara) davon erzählt. Ihnen sind diese touristischen Orte fremd im eigenen Land. Es würde sich anfühlen, als machten sie einen Ausflug in ein anderes. Dass es so ist, wie es ist, ist sehr schade. Auch die Einheimischen schauen sich schließlich die Sehenswürdigkeiten ihres eigenen Landes an.
Ich möchte niemanden verurteilen oder über die Touristen die Nase rümpfen. Ich habe auch die deutschen Bäckereien und Pizzerien ebenso mit ihren Angeboten aus aller Welt genossen. Dann wieder einmal einen Apfelstrudel zu essen, tat echt gut. Der stammte ursprünglich auch aus Österreich.  Ich bin überzeugt, dass viele Menschen ihren Indienaufenthalt auf eine andere Stufe heben könnten, wenn sie mit offenen Augen durch das Land reisten und nicht nur von einer Sehenswürdigkeit zur anderen führen. Die Chancen stünden nicht schlecht, intensiver in die fremde Kultur einzutauchen. Das ist ein sehr schöner Prozess und eine Lehre für´s Leben, sich immer wieder neu auf unbekannte Dinge einzulassen – offen und vorurteilsfrei.  Der amerikanische Schriftsteller, James Michener, bringt es auf den Punkt: „Wenn du die Speisen ablehnst, die Sitten ignorierst und die Menschen meidest, bleibst du besser Zuhause“. Ich halte es mit Kurt Tucholsky: „Trudele durch die Welt. Sie ist so schön, gib dich ihr hin und sie wird sich dir geben“.

P.S.: Die Eindrücke, die ich während meiner Reise gemacht habe, sind subjektiv. Es kann gut sein, dass jemand von ganz anderen Erfahrungen berichten kann, der dieselbe Reise macht. Also kommt nach Indien und erlebt es selbst !

3 Gedanken zu “Ein Platz an der Sonne

  1. Nicht uninteressanter Artikel. Das mit den Neckermann Stränden hab ich selbst in Südindien erlebt (1999, 1998), ich bin geflüchtet (sah Leute unter Sonnenschirmen am Strand Wiener Schnitzel essen und dazu halb Liter Gläser Bier trinken, in geöffneten Hemden, die mit Palmen bedruckt waren, mit sonnenverbrannten Bierbäuchen) – ich bin schleunigst abgehauen. Varkala war damals noch nicht so schlimm. In Mahabalipuram aka Mamallapuram bekam ich die Gelegenheit, in einem Hindi Movie (Bollywood) zusammen mit ca. 5 anderen ‚Westerners‘ als Statistin mitzuspielen – in einem Filmstudio in Chennai dann – das war eine super Erfahrung, wir bekamen sogar bezahlt und das beste indische Essen ever (ausschließlich mit Händen zu essen, so wie alle anderen indischen Schauspieler). Was du schreibst, stimmt voll. Aber andererseits ist Tourismus auch gut für die Wirtschaft. RESPEKTVOLLER Tourismus, meine ich. Die Inder ihrerseits sind auch sehr interessiert an Menschen, die aus anderen Ländern kommen.

    Kurz und gut, ‚Wiener Schnitzel Tourismus‘ ruiniert alles, aber Kulturaustausch an und für sich ist zu begrüßen IMHO, wir können doch alle voneinander lernen.

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  2. Lieber Richard,
    mit großem Interesse habe ich deinen Bericht „Einen Platz an der Sonne“ gelesen. Ich war noch nie in Indien, aber ich kann mir vorstellen, dass du den Unterschied zu deinem Einsatzort erst einmal verarbeiten musstest. In eine andere Kultur einzutauchen und ihre Werte und Gewohnheiten zu entdecken und zu achten und sicher auch manchmal kritisch zu hinterfragen, sollten an erster Stelle stehen, da bin ich ganz deiner Meinung.
    Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ich mich an meine o.g. Worte nicht immer gehalten habe, aber in der Zwischenzeit gelernt habe.
    Danke für deinen Bericht. Es grüßt Ida aus Rumänien 🇷🇴

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